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Reiseberichte
von Klaus Bölling und Renate Rüthlin
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Cornwall und Südengland, September 2000

Carter's Farm

BSE hin Schafkrankheit her - es gibt sie noch, die bukolischen Landschaften mit den poetischen romantischen Schafen des Henry James...

Ein Spätsommertag in Südengland

Families only... steht auf dem kleinen Schild am Eingang zum Camping Site auf dem Farmgelände, man möchte nur Paare über Dreißig, dogs welcome...

Es ist früher Nachmittag, als wir auf den Hof von Carter's Farm rollen. Auf dem Weg dorthin haben wir einen Vorgeschmack auf die Straßenverhältnisse abseits der Hauptstraßen bekommen. Der rechte Fahrbahnrand von einer gepflegten Hecke gesäumt, neben uns noch Platz für einen Fahrradfahrer. Zum Glück kam uns niemand entgegen, und wir können uns jetzt erleichtert den Angstschweiß von der Stirn wischen. In Dover, wo die Zollabfertigungsanlagen entfernt an das alte Herleshausen erinnerten, waren wir, ehe wir auch nur registrieren konnten, daß es für EU-Bürger keine Zoll- und Gesichtskontrolle mehr gibt, auf einer vierspurigen Schnellstraße gelandet, wo es von Geisterfahrern nur so wimmelte... Durch die gepflegten kleinen Badeorte entlang der alten Küstenstraße, auf die wir abgebogen waren, fuhr R. jetzt schon souverän auf der falschen Seite, was niemand außer mir bemerkte. Irgendwann hatten wir das Auto an der Strandpromenade geparkt, die Nasen in den grauen, sonnigen Kanalwind gehalten und waren glücklich wie die Kinder gewesen.

Eine Heiratsurkunde müssen wir der freundlichen Farmerin in Kittelschürze nicht vorlegen und dürfen zwischen sanften grünen Hügeln, auf denen Schafe weiden, am Rande eines eher stehenden als fließenden Bächleins, das verdammt nach Mückenbrutanstalt aussieht, unser Iglu aufschlagen. Wir zählen 3 weitere Zelte und 7 Caravans, die über die weite Hügellandschaft ver­streut sind. Der Abstand zum nächsten Nachbarn beträgt gut 100 Meter.

Nachdem wir etwas gegessen haben, fahren wir nach Rye, einem Kleinst­städtchen mit schönen alten Fachwerkhäusern und viel Kopfsteinpflaster. Am Hafen kreischen Möven. In den Antiquitätenläden klingeln die Kassen. Mittendrin eine normannische Kathedrale, die leider geschlossen ist. In der Nähe des Autos ein etwas abgekämpfter, aber fröhlicher Radtourist, immer noch, trotz der kalten Brise, in kurzen Hosen und Unterhemd. Er erkundigt sich nach einem Campingplatz in der Nähe. Wir versuchen, ihm Carter's Farm zu beschreiben. Der junge Mann sagt grinsend, wir könnten auch deutsch reden - er sei Holländer. Als er hört, daß auf dem Campingplatz nur Familien und keine Leute unter dreißig erwünscht sind, grinst er und klärt uns auf, daß man sich damit nur lärmende Jugendgruppen vom Hals halten wolle, ihn allein würde man immer aufnehmen.

Wieder zurück auf Carters Farm machen wir, ehe es zu dämmern beginnt, noch einen Spaziergang in Richtung Meer. Ein Pfad aus kurzem Grün am Rande eines Laubwalds, der linkerhand in steiles Hügelland übergeht, führt in eine gewellte Marschlandschaft. Gleichsam in die Erinnerung an einen vergangenen Aggregatzustand der Schöpfung. Ein Wassergraben mit zwei Schwänen und dem Kupfergrau des Abendhimmels darin zeichnet eine Diagonale auf den Horizont zu, aus dem rechterhand eine wie mit Riesenbrokkoli be­wachsene Düne aufsteigt. Schafe knabbern am Grasteppich um silbrige Disteln herum. Die Ursehnsucht nach bukolischer Landschaft: hier wird sie gestillt. Henry James, der viele Jahre in Rye gewohnt hatte, beschreibt im Jahre 1877 eine ähnliche Landschaft einige Meilen weiter nördlich von hier: Unmittelbar auf der anderen Seite des Flusses befand sich eine ebene Wiese, die dem Rasen, auf dem ich stand, den Rang streitig machte, und diese Wiese schien vermöge der dickleibigen Schafe, die darauf grasten, nur um so wesentlicher zur Szene zu gehören. Diese Schafe waren keineswegs nur eßbare Hammel; es waren poetische, historische, romantische Schafe; sie waren nicht wegen ihres Gewichts oder ihrer Wolle hier, sie waren hier wegen ihrer Präsenz und ihres kompositorischen Wertes, und sie wußten es sichtlich...

Wir begegnen einem einsamen Jogger, der uns natürlich auf der fal­schen Seite des Wiesenpfads entgegenkeucht. Als wir im letzten Moment ausweichen, werden wir mit einem freundlichen Thank you bedacht. Auf dem Rückweg beginnt es zu regnen, und wir beschließen, nie wieder ohne unsere reich­lich vorhandene Regenkleidung auszugehen.

Zurück auf dem Platz, können wir zuschauen, wie der Farmer mittels Landrover und zwei emsigen Hunden die Schafherde von den Hügeln pflückt und zwischen den Zelten und Caravans hindurch zum Stall treibt. Morgen früh werden sie wieder auf die Hügel verteilt werden, um ihrer verantwortlichen Tätigkeit des Einfach-Vorhandenseins nachzugehen. Unser holländischer Radtourist hat den Weg nach Carter's Farm nicht gefunden und sich wahrscheinlich irgendwo ein Zimmer genommen. Wir verbringen die Zeit bis zum Schlafengehen im Auto und hören dem Regen zu, der dezent aufs Dach trommelt...

Von Pferden, Kühen und einem potenziellen weißen Einhorn.

Ein Campingplatz im NEW FOREST

im bukolischen Süden der britischen Insel

Nachdem uns die junge Frau an der Rezeption, als sie meinen fremdländi­schen Akzent bemerkt und einen Blick aufs Autokennzeichen geworfen hat, in sehr prononciertem Oxford-English, oder was ich dafür halte, einen Platz in der no-dog-area zugewiesen hat, bittet sie uns freundlich, mindestens sechs Meter Abstand zum nächsten Nachbarn zu halten und auf keinen Fall Lebensmittel im Zelt aufzube­wahren...

Vormittags waren wir auf den Klippen oberhalb des Leuchtturms von Beachy Head gewesen, der rotweiß geringelt in der heute nicht sehr starken Brandung stand. Inmitten von Schafen und einer deutschen Schulklasse nebst anglophilem Lehr­personal waren wir ein bisschen in den zarten Grün- und Ockertönen der South-Downs-Ausläufer herumgestiegen, hatten uns vom Westwind zausen lassen und einen langen Blick auf die sich grau-weiß bis zum Horizont erstreckende Steilküsten­linie der Seven Sisters geworfen. Einen großen Bogen um Brighton machend, waren wir dann auf der M 27 um Southhampton herum weiter bis zum New Forest gefahren.

Wir hatten einige Zeit gebraucht, bis wir in diesem über 300 km² großen ehemaligen Jagdrevier der englischen Könige und heutigen Naturschutzgebiet einen Camping-Site ent­deckten. Nicht, weil es so wenige gäbe, sondern weil sie so gut getarnt sind. Als wir schließlich aufatmend zur Rezeption des "Hollands Wood" rollen, wird uns klar, dass wir an mindestens 5 Plätzen ähnlicher Art, ohne sie bemerkt zu haben, vorbeigefahren sein müssen, was uns im Nachhinein für die Platzbetreiber, eine englandweit arbeitende Campingplatzkette mit Sitz in Edinburgh, einnimmt.

Auf der Suche nach der no-dog-area stellen wir einigermaßen verwundert fest, dass man auf diesen Platz offensichtlich nicht nur seine Hunde und Kinder, sondern auch seine Pferde mitnehmen kann und sind geneigt, es als eine Schrulle englischer Camping-Urlauber hinzunehmen. Pferde bellen ja nicht... Wir schaffen es gerade, unser Iglu notdürftig zu installieren, als erst ein Pferd, dann ein zweites auf uns zugeschaukelt kommt. Schließlich sind es fünf ausgewach­sene Ponies, die um unser Auto her­umstehen und mit offenen Augen, ein Bein leicht angezogen, in tiefen Schlaf versinken. Mit sehr gemischten Gefühlen zwänge ich mich durch die Masse schlafen­den Pferdefleischs bis zur Heckklappe des Autos, um einen Aperitif herauszuangeln. Wir wissen, dass man die Viecher in diesem Zu­stand nicht zu sehr erschrecken darf, deshalb knalle ich die Autotür nur sehr behutsam zu. Wir nippen am Aperitif und genießen das Unvermeidliche. Nach einer knappen halben Stunde wachen sie, eines nach dem anderen, auf und trotten friedlich, ohne uns eines Blicks zu würdigen, von dannen.

Den Anstoß, das Rätsel der Pferde zu lösen, gibt kurz darauf das Auftauchen einer - Kuh, die ein paar Meter von uns entfernt ihr schwarz-weiß geflecktes Fell an einem Baum schuppert und mit sanften Augen zu uns herüberglotzt. Da wir davon ausgehen, dass auch der spleenigste Engländer etwas so Sperriges wie eine Kuh nicht auf den Zeltplatz mitnehmen würde, beschließen wir, unsere Umgebung etwas näher zu untersuchen: Der Platz, an dessen Rand wir uns befinden, geht unmittelbar in eine große Lichtung über, auf der Pferde und Kühe in pastoraler Eintracht das Gras in Rasen verwandeln. Für die Pferde und Kühe bildet der flache Graben zwischen Zeltplatz und Lichtung kein Hindernis, zumal er an mehreren Stel­len von kuhbreiten massiven Holzstegen überbrückt wird, über die sie mit herein­brechender Dämmerung in ihre Welt zurückkehren und die auch von den Bewohnern des Platzes benutzt werden, um sich auf der Lichtung inmitten der kaum Scheu zeigenden Tiere zu ergehen. Man kennt sich ja von der anderen Seite. Später am Abend, als im Zwielicht und den aufsteigenden Nebeln die Tierkörper nur noch als Schemen zu erkennen sind, wären wir nicht verwundert gewesen, hätten wir am gegenüber­liegenden Waldrand ein weißes Einhorn aus dem Unterholz treten sehen...

Die scheinbare bukolische Einheit von Mensch, Natur und Tier hat einen durchaus materiellen Hintergrund, wie wir bei einem Spaziergang zum nächsten Ort feststellen. Der Weg führt größtenteils direkt am Rand der vielbefahrenen Landstraße entlang, wo die von der Arbeit in Southhampton in ihre My-home-is-my-castle-Idylle zurückkehrenden Pendler nicht weniger gestresst in ihren im Schritt-Tempo rollenden, stinkenden Blechkisten hocken wie ihre Artgenossen im übrigen Europa. Überall beiderseits der Straße, selbst in den Wohngebieten am Ortsrand sehen wir freilau­fende Schafe, Pferde und Kühe als lebende Rasenmäher. Um zu verhindern, dass die Viecher den Verkehr auf der Hauptstraße blockieren, hat man da, wo eine Seiten­straße abbiegt und damit den parallel zur Straße laufenden Graben über­queren muss, ca. 3 m breite Eisenroste (cattle grids) verlegt, die von Autos bequem befahren aber von Huftieren nicht betreten werden können. Für Fußgänger gibt es eine kleine Pforte, die man sorgfältig hinter sich schließt. Auf Zäune und Tempo 30 Schilder kann man verzich­ten. Genial! Das unaufdringlich selbstverständliche Vorhandensein nicht kasernierter Tiere ist eine ganz neue Erfahrung für uns. Obwohl ganz real, sind es Bilder, die einem Traum, der mit verschütteten Erinnerungen spielt, entstammen könnten.

Um nicht völlig von euphorischen Gefühlen überwältigt zu werden, betreten wir in Brockenhurst einen kleinen Supermarkt, wo eine Flasche argentinischer Tafelwein ("vine of the week") umgerechnet ca. 15 Mark kostet... Ein kleines Päckchen deutsches Vollkornbrot kostet 4,25 DM. Wir erstehen ein "Whole Meal tin can" Brot, dessen wunderbare Konsistenz beim Kauen uns fast an der Unglaubwürdigkeit der Geschichte von der Speisung der Zehntausend zweifeln lässt... Nach einigem Suchen im Langenscheidt und einiger sprachlicher Kombinationsarbeit tippen wir auf Brotkonserve, die aber frisch aussieht und sich auch so anfühlt. Trotz allem: es schmeckt wunderbar, ist bezahlbar und scheint im Mund nie weniger zu werden...

Vor dem Laden sehen wir elegante Ladies und Gentlemen im blank polierten Jaguar vorfahren, Hausfrauen in geblümten 50er-Jahre-Kleidern tragen schwere Einkaufskörbe, ein hoch gewachsener, dürrer Mann in schäbigster Hose und löcherigem Pullover, mit verfilzten grauen Haaren, die bis zu den Schulterblättern reichen, schreitet mit der 'Times' unterm Arm erhobenen Hauptes an uns vorbei. Er erinnert uns sehr an die Anekdote von dem Earl, der auf die Frage, warum er, egal ob auf seinem Landsitz oder in London weilend, immer im gleichen Landstreicher-Outfit herumläuft, lapidar antwortet: hier kennt mich jeder und in London kennt mich keiner...

Als wir endlich wieder vor unserem Iglu sitzen, sind Pferde und Kühe im Nebel, der über der Lichtung liegt, verschwunden, und der Platz gehört ganz den grauen (!) Eichhörnchen, die possierlich in den uns umgebenden Bäumen herum­kobolzen. Ca. 20 Meter von uns entfernt stehen zwei Caravans, der eine mit engli­schem, der andere mit holländischem Kennzeichen. Bei unserer Ankunft waren die Bewohner unterwegs gewesen. Als sie jetzt zurückkommen, besteht ihr erstes hektisches Tun darin, Bettücher und Decken auf bereits gespannte Wäsche­leinen zu hängen, damit niemand sehen kann, wie sie vor ihrer Hütte sitzen und Dosenbier trinken.

Bei unserem abendlichen Rundgang über den Platz, der trotz seiner Größe völlig in die Landschaft integriert ist, entdecken wir am Eingang zu den blitzsauberen, komfortablen Sanitäranlagen Hinweis­schilder, die daran erinnern, dass die Betreiber keine Verantwortung übernehmen, sollte ein Pony das Zelt ramponieren, weil man dort Lebensmittel deponiert hat...

Dartmoor-Feeling

Von der Schwierigkeit am Straßenrand zu pinkeln

Von wilden Ponies und plötzlich einsetzendem Nebel

Ein Spätsommertag in Südengland auf dem Weg nach Cornwall

In Calais hatten wir Muße gehabt, in das ADAC-Merkblatt für England-Reisende zu schauen und erfahren, daß die Scheinwerfer von Konti­nent-Autos bei Nachtfahrten mit einer speziellen Folie zu bekleben sind, die man auf der Fähre erwerben könne. Natürlich hatten wir dort nur noch die näherkommenden Kreide­felsen von Dover im Sinn und dachten nicht an Scheinwerfer-Folien. Da wir außerdem nicht vorhatten, nachts zu fahren, vergaßen wir die Angelegenheit.

Auf dem Weg zum Dartmoor kommen wir im New Forest, einige Meilen westlich von Southhampton, durch eine Heidelandschaft. Wir steigen aus und folgen mit den Augen einem sandigen Weg, der bis zum blassen Horizont führt, gehen ein paar Schritte durch die duftende Stille, über der sich ein großer Himmel wölbt und denken jeder für sich: hier sollte man bleiben. Doch da es früher Vormittag ist und wir gewöhnlich erst am späten Nachmittag nach einem Platz für unser Iglu suchen, reißen wir uns los von dem Ort, der so schön ist, daß uns kleine Schauer über den Rücken laufen.

Die weite Hügellandschaft des sich anschließenden südlichen Dorset, mit ihren teilweise atemberaubenden Ausblicken auf eine Ahnung von atlantischem Grau durchfahren wir ohne größere Vorkommnisse, quälen uns, nun schon in Devon, ein paar Meilen auf der Autobahn um Exeter herum und versuchen, den Abzweig ins Dartmoor zu finden. Was nach einigen Irrungen und Wirrungen auch gelingt. Zumin­dest bis nach Moretonhampstead, das sich Tor zum Dartmoor nennt, wo aber heute eine Großbaustelle mitten auf dem Marktplatz, von dem normalerweise mehrere Straßen abgehen, die Hinweisschilder durcheinandergewirbelt hat. Nachdem wir die Baustelle ohne Blech- und Personenschaden passiert haben, fahren wir bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit an den Straßenrand. Unser Gefühl und die Straßenkarte sagen uns: wir sind eine Steinwurfweite vom berühmten Dartmoor entfernt. Aber erstmal müssen wir dringend pinkeln. Links zwei Garagentore aus Wellblech. Rechts eine Hecke mit einem schmalen Ein­schnitt darin, der einen weiteren, noch schmaleren Heckenweg nach irgendwohin an­deutet. Von einem Bein aufs andere tretend, schätzen wir die statistische Häufigkeit ab, mit der hier ein Auto vorbeikommen oder jemand aus den Fenstern der paar umstehenden Häuser glotzen könnte und beschließen, sollte auch der Hund von Baskerville höchst­persönlich auf uns gehetzt werden, unsere Blasen zu leeren. England ist wunderschön, doch am Straßenrand unbemerkt einem menschlichen Bedürfnis nachzugehen, ist wegen der Architektur der Landschaft nicht immer einfach.

Nachdem wir die paar Meilen zum Marktplatz von Moretonhampstead zurück gefahren sind und, aus dieser Richtung kommend, ein Schild gefunden haben, das uns den rechten Weg zeigte, sind wir nun zwar seit geraumer Zeit schon im Dart­moor, was aber nicht bedeutet, daß wir etwas anderes davon zu sehen bekämen als das ge­wundene, auf- und niedersteigen­de Sträßchen, das auf beiden Seiten von mannshohen Hecken be­grenzt, sich durch eine weitgehend unsichtbare Landschaft schlängelt. Als wir uns der Kuppe eines Hügels nähern, ist der Heckentunnel schließlich zu Ende und wir halten am Straßenrand, um uns in Ruhe die Land­schaft anzuschauen. Eine sanfte Dünung aus unterschiedlichsten Grün- und Braun­tönen, die da und dort am Horizont in bewaldete Hügel übergeht. Friedlich weidende Schafe oder wilde Ponies als graue Tupfer darin, die ein Gefühl von Ödnis gar nicht erst aufkommen lassen. Wie um uns für die Tunnelfahrt zu entschädi­gen, haben wir auch noch zwei der fünf Minuten im Jahr, da über dem Dartmoor die Sonne scheint, erwischt. Die Schafe, die nur deshalb nicht überall auf der Straße herumstehen, weil dort - noch - kein Gras wächst, sind von unserem Auto nicht im gering­sten beein­druckt. Weitere 10 Meilen rollen wir gemächlich durchs heute gar nicht düstere Dart­moor, das wir bei Two Bridges, wo sich das berüchtigte Gefängnis befindet, verlassen. Gleich am Fuße der steil abfallenden Straße befindet sich ein Camping­platz, auf dem wir die Nacht verbrin­gen wollen.

Nachdem wir uns installiert haben, fahren wir noch einmal hoch ins Moor. Gleich am Ende der Steigung hatten wir einen Parkplatz gesehen. Wir steigen aus und sind sogleich umringt von kleinen 'wilden' Ponies, die in der Erwartung, gefüttert zu werden, überall auf dem Parkplatz herumlungern. Da von einem Weg nichts zu sehen ist, gehen wir, um ein bißchen "Dartmoor-Feeling" zu bekommen, gut hundert Meter über die Wiese, wo wir einen weiten Blick über das Tal haben, in dem unser Camping-Platz liegt. Wir wollen gerade in Richtung einer Gruppe seltsam geformter Steine weiter­gehen, als wir von einer Sekunde auf die andere in dichtem Nebel stehen. Kein Tal mehr, keine Steine mehr, keine Ponies, keine Schafe, kein Auto. Nur eine Arm­länge graugrüner Rasen um uns. Wir wissen, daß wir genau entgegengesetzt zu der Richtung, in die wir jetzt blicken, gehen müssen, um zum Parkplatz zu ge­langen. Klopfenden Herzens stolpern wir Hand in Hand durch die Watteschicht, die oben­drein auch noch sämtliche Geräusche erstickt. Wir über­queren einen kleinen Graben, an den wir uns vom Hinweg her zu erinnern meinen. Aber wie viele Gräben dieser Art mag es auf der Wiese geben... Wir erinnern uns an die Geschichten, die wir gelesen haben, von aufwendigen Suchaktionen nach im Nebel herumirrenden Wanderern, wir denken an die Warnungen, sich im Dart­moor von den gekennzeichneten Wegen zu entfernen oder sich bei plötzlich aufkommen­dem Nebel von der Stelle zu rühren. Doch kann unserer Schätzung nach der Park­platz noch höchstens dreißig Meter entfernt sein. Schließlich sehen wir da, wo wir meinen, daß die Straße verlaufen muß, schemenhaft einen Autoscheinwerfer im Nebel. Da das Auto glücklicherweise im Schritttempo fährt, hasten wir, so schnell es der unebene Boden zuläßt, auf diesen Orientierungspunkt zu und stehen kurz darauf mit weichen Knien auf dem jetzt völlig verlassenen Parkplatz. So viel Dartmoor-Feeling auf einmal hatten wir gar nicht haben wollen.

Wohlbehalten wieder im kuschligen Auto sitzend, machen wir automatisch, wie es sich bei Nebel gehört, die Scheinwerfer an. Im selben Moment fällt uns siedendheiß ein, daß wir etwas vergessen haben... Die Folien! Auch wenn wir nicht nachts fahren, werden vermutlich Nebel und Nieselregen unsere Urlaubs-Begleiter sein und es wird nicht ohne Licht gehen. Wir reagieren ganz englisch: Wait and see, abwarten, ob sich jemand beschwert, was übrigens niemand getan hat. Ein paar hundert Meter weiter die Straße abwärts ist der Nebel wie weggeblasen. Dafür setzt auf dem Camping-Platz ein endloser Nieselregen ein...

Auf der einstmals reichsten Quadratmeile der Welt

Verlassene Maschinenhäuser von stillgelegten Kupfer- und Zinnminen prägen als Kathedralen der Technik das Bild der cornischen Landschaft

Portreath, Gwithian Towans, St. Agnes: von begnadeten Strandräubern und dem seltsamen zivilen Ungehorsam britischer Hundebesitzer

ein Spätsommertag an der cornischen Westküste

Morgens um 8:00 Uhr ist der Higher Longford Caravan & Camping Park am Fuße des Dartmoor in dichten Nebel gehüllt. Im Nieselregen stehend frühstücken wir, und sehen zu, daß wir weiterkommen.

Kurz hinter Tavistock überqueren wir auf einer alten Steinbrücke den River Tamar und sind in Cornwall. Die Landschaft erscheint uns schroffer, enger, nicht mehr von dieser pastoralen Weite wie in Devon, gleichsam als sei sie von den West­winden und der ständigen Präsenz des nahen Ozeans zusammengeschoben. Es gibt zwar auch ein paar sanfte Hügel, doch die sind eher klein und hingeduckt. Man meint, jeden Moment irgendwo Fabrikschlote auftauchen zu sehen, was nicht der Fall ist, da es in Cornwall so gut wie keine Industrie mehr gibt. Trotzdem vermittelt die Landschaft ein Gefühl, als träte man, aus einem weitläufigen herrschaftlichen Anwesen kommend, in eine enge Proletarierwohnung ein. Diese Landschaft bewirkt keine überwältigende Liebe auf den ersten Blick, dazu mustert sie den Eindringling mit zu stolzem, herausfordernden Blick. Hier will eine spröde Schöne umworben und, vielleicht, erobert werden. Dann könnte es die große Liebe werden...

Hinter Truro verlassen wir die Hauptstraße, um uns in der hübschen Hügel­landschaft einen Campingplatz zu suchen. Den finden wir nahe dem winzigen Ort Chacewater. Der Platzwart, der uns zu der Wiese geleitet, auf die wir unser Iglu stellen können, erzählt, daß auf diesen Platz nur Leute über Dreißig kommen. Kinder gäbe es hier nicht, denn seine Stammgäste seien überwiegend pensionierte Lehrer, die keine Kinder mehr sehen könnten. Unsere sarkastisch gemeinte Frage, ob denn, wenn schon keine Kinder, wenigstens Hunde auf dem Platz welcome wären, bejaht er eifrig. Wir verkneifen uns die Frage, ob er uns weggeschickt hätte, wenn wir Kinder im Auto gehabt hätten. Da wir nicht wissen, was uns auf dem nächsten Platz erwartet (vielleicht nur Leute über Siebzig erwünscht ), bleiben wir.

Vor unserem Iglu sitzend können wir auf den umliegenden Hügeln die Ruinen der Maschinenhäuser alter Zinn- und Kupferminen mit ihren hochaufragenden, aus roten Ziegeln gemauerten, charakteristischen Schornsteinen sehen. Diese Gegend wurde einmal, während der Hochzeit der Kupfergewinnung, die "reichste Quadrat­meile der Welt" genannt. In einem Reisebericht aus dem Jahre 1797 wird das, was diesem Reichtum zugrunde lag, sehr anschaulich geschildert: Die Bergwerke liegen in einer trostlosen Wüstenei, die durch die ungesunde Erscheinung ihrer Bewohner noch trübseliger wirkt. Bei jedem Schritt stolpert man über Leitern, die in totale Fin­sternis hinabführen und über Abzugsröhren, die warme, nach Kupfer riechende Dünste verströmen. Überall um die Öffnungen ist das Erz zu Haufen aufgeschüttet und wartet auf Käufer. Ich sah, wie es mit Hilfe einer von Maultieren betriebenen Winde übelriechend aus dem Bergwerk gehievt wurde. Die Maultiere wiederum wer­den von auf ihnen hängenden boshaften Kindern angetrieben, die sie ohne Gnade prügeln. Diese trostlose Szenerie von Winden, leidenden Maultieren und Haufen von Abraum erstreckt sich über Meilen. Riesige eiserne Maschinen und flammen­spuckende Kamine bringen Abwechslung ins Bild. Während ich in der Tür des Hauses stand, krochen einige jämmerliche Gestalten in zerlumpter Kleidung aus einer dunklen Spalte, Spitzhacken auf der Schulter, und begaben sich zu einer elenden Hütte, wo man Gin verkaufte. Dort verbringen sie ihre wenigen Stunden über der Erde und trinken, so kann man nur hoffen, bis sie ihre unterirdische Existenz vergessen... (William Beckford).

Das nahe Redruth, das mit der Nachbargemeinde Camborne den einzigen "Ballungsraum" Cornwalls, in dem knapp 30.000 Menschen leben, bildet, ist ein altes Bergarbeiterstädtchen mit einer heute nicht sehr belebten Einkaufs­meile, die von schiefergrauen Häusern gesäumt wird. In einem von ihnen leuchtete im Jahre 1827 das erste Gaslicht in Europa. Die Menschen, die uns begegnen, sehen nicht sehr fröhlich aus. Wir vermuten, daß viele von ihnen arbeitslos sind. Hier war einmal das Zentrum der cornischen Zinn- und Kupfer-Produktion. Auf ihrem Höhepunkt Mitte des 19. Jhdts. arbeiteten bis zu 50.000 Menschen untertage, um in den 350 Minen 70% der Welt-Kupfer-Produktion zu fördern. Die Kirche aus dem 15. Jahrhundert hat ein extra großes lych gate, einen überdachten Gang zwischen Kirche und Kirchhof, um bei Grubenunglücken genug Platz für die vielen Särge zu haben, die dort bis zum Erscheinen des Geistlichen aufgestellt wurden...

Wir lassen Redruth hinter uns und fahren über von Hecken gesäumte Sträßchen weiter in, wie wir hoffen, halbwegs westliche Richtung. An der Sonne orientieren können wir uns nicht. Die ist in dichte ozeanische Watte verpackt. Die Straßenkarte nützt uns nichts. Die dort gedruckten Ortsnamen erscheinen nur sehr willkürlich auf Hinweisschildern am Straßenrand, und dann auch nur da, wo die einzuschlagende Richtung über jeden Zweifel erhaben ist. An Kreuzungen, wo man fünf verschiedene Möglichkeiten zur Auswahl hat, fehlen sie völlig oder sind, wie wir später feststellen, so hoch angebracht, daß sie in ihrer ganzen gußeisernen, seit zweihundert Jahren rostenden Schönheit nur von Reitern oder Fußgängern wahrgenommen werden können. Also fahren wir nach Gefühl und landen schließlich in dem kleinen Badeort Portreath. Ein für cornische Verhältnisse hübscher Sandstrand, zwischen steil ansteigende Felswände geduckt. Eine Fish-and-Chips-Bude. Ein Post-Office. Eine Bushaltestelle. Ein paar Bed and Breakfast-Hütten entlang der Straße und über die umliegenden Hügel verteilt. Das alles unter einem riesigen grauen Himmel, der einen heute winzigen Ozean überspannt, den man durch ein, an der Strandpromenade installiertes Münzfernrohr, nach potentieller Beute absuchen kann. Die Vorfahren der heutigen Bewohner von Portreath sollen, begünstigt durch die gefährlich enge Hafeneinfahrt und vorgelagerte Riffe, begnadete Strandräuber gewesen sein, die es auch nicht verschmäht hatten, in Seenot geratene Schiffe durch falsche Signale an ihren Strand zu locken, um sie, verstärkt durch eine Hundertschaft darbender Bergar­beiter aus dem mehr im Landesinneren gelegenen Illogan, bis zum letzten Nagel auszuplündern. Heute macht man in Tourismus.

Eine enge Serpentinenstraße führt uns auf den Kamm der graugrünen Hügel. Zwischen staubigen Hecken fahren wir parallel zur Steilküste weiter in Richtung Süden. Will man in Cornwall sehen, was sich hinter den Hecken verbirgt, muß man das Auto stehen lassen und zu Fuß gehen. Das tun wir, nachdem wir einen kleinen Parkplatz am Rande der Klippen angesteuert haben, wo ein schrottreifer Reisebus steht , aus dem ein Schornstein ragt. Hinter der Windschutzscheibe bemerken wir Kinderspielzeug. Hier scheint jemand zu wohnen oder gewohnt zu haben. Wir wer­den es nicht erfahren. Nach ein paar Schritten befinden wir uns in einer Landschaft von erhabener Weite und schroffer Schönheit. Beeindruckend ist die Tiefe, in der an diesem windstillen Vormittag das Meer unten träge an den Felsen nagt. Landein­wärts ein grüngelbes Gewoge von Stechginster, lila Heidekraut und weißen Distel­köpfen. Die kratzbürstig leuchtenden Farben im Rücken schauen wir zu, wie der graublaue Himmel mit rauhen Wolkenhänden die sanfte Dünung des Ozeans berührt. Die Seele wird weit.

Da wir den Abzweig nach Hell's Mouth nicht finden, fahren wir weiter bis Gwithian, einem 300-Seelen-Dorf, wo man bequem wenden kann. Kurz hinter dem Ort gehen wir ein paar Schritte in die Gwithian Towans, was der cornische Begriff für große Sanddünen ist, und schaffen es mit Müh und Not auf einem schmalen im Zickzack verlaufenden Pfad, der mehr aus dem, was bei Hunden hinten raus kommt denn aus Sand besteht, bis auf den Kamm einer mit Strandhafer bewachsenen Düne, wo das, was wir nach den paar hundert Metern befürchten mußten, sich leider als Realität erweist: bis zum Horizont Hundescheiße... Zurück auf dem Parkplatz entdecken wir ein großes Schild, wo geschrieben steht, daß es bei Androhung von 200 (in Worten: zweihundert) Pfund Strafe strikt verboten ist, Hunde in die Dünen mitzunehmen. Über diese abartige Form zivilen Ungehorsams britischer Hunde­besitzer, die dutzendweise ihre Tölen auf den schmalen Dünenpfaden Gassi führen, können wir nur verwundert den Kopf schütteln.

Auf dem Rückweg streifen wir noch kurz das weiter nördlich gelegene St. Agnes. Der Ort mit seinen knapp 3000 Einwohnern kommt uns nach all den winzi­gen Dörfern, durch die wir gefahren sind, ganz städtisch vor. Auf der Flaniermeile reiht sich Teestube an Teestube, Antikladen an Antikladen. Auf den schmucken kleinen Hinterhöfen entlang des Craft TrailSt. Agnes Pottery bemerken wir eine unscheinbare dafür aber um so ältere Kirche. Als wir sie auf Zehenspitzen betreten wollen, bleiben wir überrascht stehen. Linker Hand, vom eigentlichen Kirchenraum durch eine weinrote Kordel getrennt, ein Bereich, der an eine gemütliche Bibliothek erinnert. Der Steinfußboden ist mit Teppichen ausgelegt. Auf einem Tisch stapeln sich Bücher und Broschüren. Wir sind im ersten Moment irritiert, da wir meinen, uns aus Versehen in die Privatsphäre eines Landhauses verirrt zu haben. Ein älterer Herr erhebt sich aus seinem Sessel und kommt uns, übers ganze, freundlich runde, etwas gerötete Gesicht strahlend, mit einladender Geste entgegen und sagt Good Morning. Es ist 13:15 Uhr. Wir dürfen das Innere der Kirche besichtigen. Das ist sehr schlicht und wird ganz von den warmen, dunklen Brauntönen der alten Holzkonstruktion beherrscht. Es riecht, sauber und unaufdringlich, nach Bohnerwachs. Nach unserem kurzen Rundgang werden wir höflich verabschiedet. Wieder an der frischen Luft haben wir das Gefühl, der alte Herr hätte uns gern zu einem Whiskey eingeladen. Stippy Stappy, die treppenförmig gebaute Häuserzeile, die zum Hafen hinunterführt, tun wir uns nicht an. Daß in den kleinen Steinhäusern, als hier an der Küste noch nach Zinn und Kupfer gegraben wurde, die Minenarbeiter gewohnt haben, ist heute nur noch mit etwas Phantasie nachzuvollziehen. Man hört nicht mehr die müden Schritte der Männer auf den ausgetretenen Steinstufen. Man sieht sie nicht mehr im Morgengrauen in die oft nur ein paar Meter unter dem Meeresboden liegenden und teilweise hunderte von Metern in die See hineinreichenden Minen kriechen. In der Bucht, derTrevaunance Cove und im kleinen Hafen, der seit 1934, als ihn ein Sturm verwüstete, außer Dienst ist, dümpeln heute nur noch ein paar bunte Fischerboote. sitzen Aussteiger aus den Metropolen und töpfern. Schräg gegenüber der

Wo britische Pensionäre unter Palmen wohnen

Ein Spätsommertag im südlichen Cornwall.

Von Schmugglern und Seenotrettern

und einer Begegnung
auf einem Zeltplatz, wo Kinder
nicht erwünscht sind...

Welche keltische Gottheit dafür zuständig ist, wissen wir nicht, auf jeden Fall hat sie uns einen für Cornwall wohl eher untypischen Sonnenaufgang beschert. Es ist noch früh am Morgen, als wir uns von unserem Zeltplatz in Chacewater aus auf den Weg zur Lizard Halbinsel machen. Am Verteilerkreisel in Falmouth halten wir vergeblich nach einem Richtungsschild Ausschau und müssen uns auf unser Gefühl verlassen, mit dem Resultat, daß wir, ohne wenden zu können, auf einer abenteuer­lich schmalen Einbahnstraße um die ganze Bucht herum geführt werden. Offenbar ist hier ein Refugium für betuchte Pensionäre. Vorsichtig weichen wir immer wieder Hunden aus, die ihre gebrechlichen Frauchen und Herrchen spazieren führen. Dezent über die grünen Hügel verstreut die dazugehörigen Cottages. Endlich fahren wir über eine breite Strandpromenade, wo sich vor einer respektablen Hotel­architektur in der sanften Brise Palmen wiegen. Aufgrund des Golfstroms hat diese südliche Spitze Cornwalls eine teilweise subtropische Vegetation, deshalb der Andrang britischer Pensionäre. Nachdem wir schließlich einmal um die Stadt herumgefahren sind, schaffen wir es - schon etwas genervt - zu dem Roundabout zurückzufinden, wo wir uns offenbar verfranst hatten, und siehe da, aus dieser Richtung kommend, finden wir ein Schild nach Lizard und fahren nun ein paar Kilometer über eine kurvenreiche, schmale Landstraße, auf der kaum Verkehr ist. Bei Gweek überqueren wir den Helston River und gelangen in die Goonhilly Downs, ein hundert Meter über den Meeresspiegel sich erhebendes hochmoorartiges Hügelland, auf dessen felsigem Untergrund nur eine einzige Pflanze wächst, Erica valgans, eine Heidekrautart. Auf dem höchsten Punkt wachsen hinter Maschendrahtzäunen riesige, silbern glänzende Satellitenschüsseln in den tiefblauen Himmel, über die der Funkverkehr der britischen Telekom abgewickelt wird. Während wir angestrengt über die Frage nachdenken, warum in Südengland und Cornwall die Hügellandschaften nicht "UPS", sondern Downs heißen, erreichen wir die Küste.

Die Sonne strahlt aus einem wolkenlosen, fast mediterranen Himmel auf das an einer idyllischen Bucht gelegene Fischerdörfchen Coverack. Träge schwappt der Ozean gegen die paar hundert Meter Sandstrand. Weit draußen vor der Bucht die bunten Segel der Surfer. Auf dem Weg zum kleinen Hafen, wo es obligat nach Fisch und Teer riecht, kommen wir an weißgekalkten, reetgedeckten Häuschen vorbei, die an Dithmarschen erinnern. An der Außenwand der Hafenmeisterei sehen wir vier große Tafeln, die davon künden, daß dieses Stückchen Küste, wo der Kanal sich der Weite des Atlantiks öffnet, nicht immer so sanft besonnt ist wie heute. Da stehen, beginnend mit dem Jahre 1902 und endend mit dem Jahre 1978, die Namen der Schiffe, die vor der Küste mit ihren kilometerlang vorgelagerten Riffs, in Seenot geraten waren. Da steht hinter jedem Schiffsnamen, akribisch und teilweise mit ungelenker Handschrift aufgeschrieben, die Anzahl derer, die man lebend, verletzt oder tot hatte bergen können. Jede Zeile eine Tragödie. Auch die Frau, die 1976 von einer nahegelegenen Klippe gestürzt war und die man schwerverletzt hatte bergen können, ist erwähnt. Ehe man, Ende der siebziger Jahre, die Seenot-Rettung vom nahen Falmouth aus zu organisieren begonnen hatte, waren die Fischer von Coverack mit nichts als einem kleinen Boot und unendlich viel Tapferkeit in die Sturmhölle hinausgefahren. Sollten sie ihre nebenberufliche Schmuggeltätigkeit ebenso intensiv wie die Seenotrettung betrieben haben, müssen die Leute von Coverack tüchtige Schmuggler gewesen sein.

Auf dem Rückweg zum Parkplatz kommen wir an einer in einem Park versteckten Hotelanlage vorbei, wo ein Pappschild am schmiedeeisernen Eingangs­portal darauf hinweist, daß hier nur Erwachsene erwünscht sind. Das Hotel Paris trägt seinen Namen nicht zu Ehren der französischen Hauptstadt, sondern soll an den amerikanischen Dampfer, The Paris, erinnern, der 1899 vor der Küste gesunken war, wobei alle 700 an Bord befindlichen Passagiere und Mannschaften von den Einwohnern Coveracks gerettet werden konnten.

Wir können gerade noch ein paar Schritte tun, als von der See her eine dichte Nebelwand aufzieht und alles in Watte hüllt. Keine Sonne mehr. Keine grünen Hügel mehr. Keine Bucht mehr. Keine Surfer mehr. Nur noch ein feuchtes, graues Wabern. Wir sind beeindruckt und hoffen, daß zur Ausrüstung cornischer Surfer auch ein Nebelhorn gehört.

Auf dem Hinweg waren wir am Harbour Lights Café vorbeigekommen, das mit seinen weiß gekalkten Mauern im Sonnenschein fast griechisch anmutete. Jetzt im feuchen Nebel wissen wir wieder, daß wir in England sind, trotzdem strahlt das Café so viel Charme aus, daß wir uns auf der Mini-Terrasse niederlassen, obwohl der Ansichtskarten-Blick auf die Bucht nun leider etwas verwischt ist. R. hatte sich in den Kopf gesetzt, unbedingt einen Cornish Cream Tea zu probieren. Unsere Vorstellung davon war diffus, bei einem Preis, der dem für ein mitteleuropäisches Mittagessen entsprach, mußte es aber etwas Besonderes sein. Ich bestelle vorsichtshalber nur einen Cider. Der Cream Tea besteht aus einem Kännchen Tee (ca. 4 Tassen), zwei Rosinenbrötchen (scones), aus je einem Schälchen Marmelade und - Cornish Cream, einem Mittelding zwischen Sahne und Butter. Zunächst probiert R. die Cream pur, das kann's nicht sein, dann beschmiert sie ein halbes Brötchen dick mit Cornish Cream und packt einen Zentimeter Erdbeermarmelade drauf! Ich schüttele mich zwar, probiere aber trotzdem und kann mich eines anerkennenden Schnaufens nicht enthalten, hatte ich doch bis zu diesem Augenblick darauf bestanden, daß CREAM TEA nichts anderes bedeuten könne, als einen faden englischen Tea mit einem Klecks Sahne unansehnlich einzufärben...

Etwas fröstelnd aber satt fahren wir weiter Richtung Lizard-Point. Wir sind kaum ein paar Minuten gefahren, als die Sonne wieder knallt und wir uns fragen, ob wir den Nebel eben nur geträumt haben. Nach einigen Kilometern Fahrt wandern wir zu Fuß die paar hundert Meter zum Lizard Point, der südlichsten Landzunge Englands. Denkt man sich die Imbiß- und Andenkenbuden weg, dann breitet sich eine wilde Steilküstenlandschaft vor uns aus, die aber zu keinem längeren Aufenthalt einlädt. Zu sehr ist die leichte Seebrise von Fish- and Chips-Dünsten geschwängert. Auf dem Rückweg lassen wir uns von der riesigen Leuchtturmanlage beeindrucken und vom dumpfen Tuten der unterhalb des Turms angebrachten Nebelhörner, die bis zu 16 Kilometer auf See noch gehört werden können. Die Leuchtfeuer sollen sogar noch aus einer Entfernung von 150 Kilometern gesehen worden sein. Im Normalfall haben sie eine Reichweite von bis zu 60 Meilen. Seit Errichten der Anlage Anfang des 20. Jahrhunderts - im 17. Jahrhudert hatte man mit einem Holzfeuer begonnen - ist die Zahl der schweren Schiffsunglücke vor diesem Teil der Küste drastisch zurückgegangen.

Im Ort Lizard selbst sitzt die Hälfte der 800 Einwohner in den Hinterzimmern kleiner Läden und verarbeitet Serpentine, das in allen Rot- und Grüntönen schimmernde, an die Haut von Schlangen erinnernde Gestein, aus dem die Küste hier besteht, zu mehr oder weniger geschmackvollen Souvenirs. Die unbearbeiteten Originale lesen wir dann etwas später am Rande des Klippenwegs bei Kynance Cove auf, wo ein reger sonntäglicher Fußgängerverkehr herrscht. Wir nehmen's gelassen und geben uns ganz dem Rausch des Steinesammelns hin.

Es ist schließlich später Nachmittag, als wir ermattet vor unserem Iglu sitzen. Ein Ehepaar geht vorüber. Middle-class. Caravanbesitzer. Bei der Ankunft auf dem Platz hatte man uns stolz mitgeteilt, daß dies der einzige Camping Site in Cornwall sei, auf dem es keine Kinder gebe, da er hauptsächlich von Lehrern frequentiert werde, die keine Kinder mehr sehen könnten… Deshalb schauen wir genau hin, weil wir schon immer wissen wollten, wie Leute aussehen, die keine Kinder mehr ertragen können: er, Typ pensionierter Oberstudienrat, bei aller Korpulenz den Eindruck aufrechter Hagerkeit erweckend, trägt auf dem Kopf eine Art Tropenhelm, vor der Brust baumelt ein schwerer Feldstecher. Die vom Khaki nicht bedeckten Hautpartien sind vom heutigen Sonnenschein rot gesotten. Wir sind uns nicht sicher, sehen wir auf seiner rechten Schulter eine Großwild-Donnerbüchse hängen oder, lässig unter den Arm geklemmt, das Stöckchen des Kolonialoffiziers... Bei ihr, korpulent in der Steigerungsform, mit einem wagenradgroßen Sonnenhut auf dem Kopf, ebenfalls in khakifarbenen Bermudas steckend, wissen wir nicht genau, sollen wir sie mit einem Schmetterlingsnetz in der rechten Hand, einer unter dem wogenden Busen baumeln­den Botanisiertrommel oder einer Handvoll palmwedelnder Negerknaben im Schlepptau ausstatten... Anyway, in schweren Wanderstiefeln steckend, aus denen Söckchen hervorlugen, fest die Spazierstöcke umklammernd, watscheln sie würde­voll an unserer Rasenterrasse vorbei, unbekannten, fernen Abenteuern entgegen... Kurze Zeit später machen wir uns zu einem Spaziergang auf. Da sehen wir sie stehen, offensichtlich unschlüssig, ob sie es wagen sollen, die Straße zu überqueren. Wie wir, diskret über die Schulter zurückschauend, feststellen, entscheiden sie sich, etwas außer Atem geraten, für die Rückkehr zu ihrem Caravan.

An Bambus und Farnen vorbei steigen wir ein bißchen in den Hügeln herum, wo hinter gepflegten Hecken die Altersruhesitze betuchterer Pensionäre liegen. Es fällt uns das Gedicht von Ringelnatz ein von den zwei Hamburger Ameisen, die nach Australien reisen wollten: ...

Bei Altona auf der Chaussee,

Da taten ihnen die Beine weh,

Und da verzichteten sie weise

Dann auf den letzten Teil der Reise...

Land's End

Von Menhiren und Fröhlichen Jungfrauen

Ein Spätsommertag auf der Penwith Halbinsel im Süden Cornwalls

Land's End... dieser, ozeanische Weite und terrestrische Einsamkeit versprechende Name, hatte schon vor Monaten, bei einem ersten Blick auf die Karte Cornwalls, unsere Phantasie erregt. Da mußten wir hin - zum westlichsten Punkt der Britischen Inseln.

Die Straße ist wie üblich nur ein Sträßchen. Dafür sind die Hecken um so höher. Kurz hinter Penzance, nahe dem kleinen Ort Boleigh, sehen wir - im Rückspiegel(!) - zwei Menhire auf einer Wiese stehen. Wegen der Hecken und hohen Viehgatter können wir sie, an denen die Kühe sich schuppern und die der Volksmund The Pipers nennt, nur aus der Ferne betrachten. Ein paar Hundert Meter weiter auf einer Viehweide auf der anderen Straßenseite ein Steinkreis, The Merry Maidens, von der Wissenschaft auf die Zeit um 2400 v. Chr. datiert. Neunzehn, ca. ein Meter hohe, unregelmäßig behauene Steine bilden einen perfekten, wie mit dem Zirkel gezogenen Kreis von über 20 Metern Durchmesser. Man erzählt sich die Geschichte von den 19 kecken Jungfrauen aus Boleigh, die in einer Vollmondnacht im Frühling den Pipers, die in solchen Nächten manchmal erwachten und auf ihren Pfeifen zum Tanz aufspielten, zu nahe gekommen waren und daraufhin in Steine verwandelt wurden. Eine Weile stehen wir noch ganz allein auf der Wiese unter dem großen grauen Himmel und überlassen uns der Magie des Ortes, die mit ein bißchen Fantasie auch heute noch zu spüren ist. Zweihundert Meter weiter, direkt am Straßenrand, eine Grabkammer aus der Broncezeit, in der zwei Lehrerinnen aus Darmstadt probeliegen.

Kurz vor Land's End machen wir noch einen Abstecher nach Porthcurno, wo 1870 das erste britische Überseekabel über Suez bis nach Bombay abging, da Aufstände in der Kolonie Indien eine schnellere Kommunikation notwendig machten. Heute ist der Ort noch bekannt wegen des Minack-Theatre, das von Rowena Cade, einer wohlhabenden Engländerin, in die Felsen gebaut wurde, mit dem Ozean als Bühnenhintergrund. Abgeschreckt von der Architekturmischung aus Vorstadt­bungalow und Parkhaus sowie einer horrenden Eintrittsgebühr, genießen wir ein paar Meter abseits den gleichen, nicht umbauten und daher kostenlosen Blick aufs Meer.

Bei Land's End ist dieser mit einer burgartigen Betonkonstruktion zugebaut, hinter deren Mauern wir alle Scheußlichkeiten Disneylands vermuten. Da gibt es, wie wir aus einem Prospekt erfahren, Attraktionen wie: Besucherzentrum, See-Luft-Rettungs Show, Letzte Labyrinth Show, Abenteuer-Spielplatz, Kegelbahn, Land's End Post Room, Land's End Main Street, The Land's End Hotel, Longships Family Restaurant and Bar, Cornish Pantry, Smugglers Burger Bar, The Pasty Shop, Tea Shop, The Land's End Sweet Co., The Land's End Trading Co., Land's End Souvenirs, Photo Development... Das ganze Gelände befindet sich in den Händen einer privaten Betreibergesellschaft, die mit dem scheinheiligen Argument, die Natur hier für spätere Generationen bewahren zu wollen, die heutige Generation mit Pseudo-Attraktionen zumüllt und dabei gnadenlos abzockt. Da wir nicht vorhaben, hier länger als nötig zu bleiben, aber schon in der Einfahrt zum Parkplatz gelandet sind, steige ich aus und frage den Typen im Kassenhäuschen, wo man hier wenden könne. Mit breitem, verständnisvollen Grinsen weist er mit dem Daumen über die Schulter und öffnet den Schlagbaum. Da führt eine Straße zurück in die Freiheit. Ozeanische Weite, terrestrische Einsamkeit... ade...

Rechts und links der Straße können wir die teilweise noch gut erhaltenen Ruinen alter Maschinenhäuser sehen. Obwohl fast alle Minen stillgelegt sind, dünstet die Landschaft immer noch den Schweiß der Bergleute aus, die hier nach Zinn oder Kupfer gruben. Der Förderturm der Geevor Mine, wo auch heute noch Zinn aufbe­reitet wird, steht vor der erhabenen Weite des Ozeans, ohne dadurch an Schönheit zu gewinnen.

Bei Morvah biegen wir rechts ab in Richtung Madron, Penzance. Das sind sechseinhalb Meilen Fahrt durch eine Landschaft, die, aufgrund der archäologischen Funde, die man dort gemacht hat, in prähistorischer Zeit dicht besiedelt gewesen sein muß - die Griechen hatten sogar einen Namen für diesen Teil des Hochlands der Penwith-Halbinsel: Bolerion. Heute macht sie einen unbewohnten Eindruck. Rechts ein Hügel, links ein Hügel, dann ein kleines, von grünen Hecken umwucher­tes, dem Straßenrand abgerungenes Plätzchen zum Parken, und wenn ein Auto drauf steht, sind wir glücklich, weil nicht mehr ganz allein unter dem großen grauen Himmel.

Nach kurzer Fahrt zeigt uns ein nicht mehr ganz neuer Wegweiser die Richtung zum Chun-Castle. Über ein kurvenreiches Sträßchen, dessen Steinmauern rechts und links sich noch nicht einmal als Hecken verkleidet haben und wo man einem entgegenkommenden Auto auch bei bestem Willen nicht hätte ausweichen können, erreichen wir nach knapp zwei Kilometern einen einsamen Bauernhof, wo die Straße endet.

Eine noch nicht gänzlich verwitterte Informationstafel am Rande der schlammi­gen Wiese, auf der maximal 5 Autos parken können, weist auf einen weiß leuchten­den Felsbrocken hin, der ca. 50 Meter entfernt am Fuße eines Hügels den Aufstieg zum Chun-Castle markiert. Dort beginnt indeed ein handbreiter Trampelpfad, der uns durch erst hüft- dann schulterhohen Stechginster die 800 Meter, die kein Ende nehmen wollen, bis zum Castle hochführt. Gerade wollen wir beginnen uns verarscht zu fühlen, als wir die Kuppe des Hügels erreicht haben. Dort können wir dann die Überreste einer eisenzeitlichen Hügelfestung bewundern, die aus einem kreisförmig angelegten Haufen alter Steine und einem weit weniger alten englischen Ehepaar besteht, das, auf dem Steinhaufen hockend, uns, als wir unvermittelt aus dem Ginsterdschungel vor ihm auftauchen, ein fröhliches Hello entgegenruft, ohne sich beim Betrachten der ringsum ausgebreiteten kargen Hügellandschaft stören zu lassen. Ähnliche Situationen muß Henry James im Sinn gehabt haben, als er vor über hundert Jahren bemerkte, daß die englische Landschaft immer "eine Landschaft mit Figuren" ist.

Und der Figuren werden noch mehr. Eigentlich sind es Figürchen, die sich bunt und in ungeordneten Haufen zielstrebig Chun-Castle nähern. Während R. mit flinken Fingern dabei ist, einen neuen Film einzulegen, damit wir den Steinhaufen noch in seiner erhabenen Einsamkeit fotografieren können, nimmt eine englische Schulklasse die Burg im Handstreich. Wir machen trotzdem ein Foto. Auf die mit­leidig gegrinste Bemerkung des Lehrers, daß wir das Foto wohl lieber ohne Figuren gehabt hätten, grummeln wir tapfer zurück, daß das völlig o.k. sei. So englisch sind wir schon. Zu Hause stellt sich heraus, daß das Foto sehr hübsch und bunt ge­worden ist. Nachdem wir uns durch den Stechginster, teilweise mit erhobenen Armen, zum Auto runtergearbeitet haben, kurven wir zurück zur Hauptstraße, wo wir nach ca. 200 Metern auf einem angedeuteten Parkplatz halten. Ein kleines Schild weist den Weg zum Men-an-Tol, was auf Cornisch "Stein mit einem Loch darin" bedeutet. Das Paar von Chun-Castle ist schon vor uns da und begrüßt uns mit einem freund­lichen, wiedererkennenden Lächeln. Wir ziehen ein Paar festere Schuhe an und folgen ihm, da wir ahnen, daß es das gleiche Ziel hat wie wir. Es geht über einen holprigen Feldweg. Links erstrecken sich Wiesen, eingegrenzt durch schnurgerade Steinmäuerchen, in der Ferne eine unbewohnt aussehende Farm. Ein kleiner Holz­wegweiser führt uns nach rechts. Wir klettern über Weidenzäune und dann sehen wir den Stein mit dem Loch. Er wird von zwei aufrechten Steinsäulen flankiert, und war ursprünglich wohl der Eingang zu einem Megalithgrab.

Die Engländerin sitzt etwas abseits auf einem Felsbrocken, er steckt seinen Kopf durch das Loch und lacht. Sie erzählt uns, in ihrem Reiseführer stehe, wenn man elfmal hindurchkrieche, würden Krankheiten wie Rheuma, Skrofulose und Rachitis geheilt. Ich grinse und erkläre, daß laut unserem Reiseführer schon ein neunmaliges Hindurchkriechen reiche. In jedem Fall sei es ratsam, wie bei allen alten Steinen, die Hand draufzulegen und auszuspucken... Wir beschließen, wenigstens einmal durch das Loch zu kriechen, das soll vor Alpträumen schützen. Der Gentlemen ist nun nicht mehr zu halten und zwängt sich, von allen angefeuert, ebenfalls hindurch.

Da es inzwischen heftig zu drizzeln begonnen hat, verabschieden wir uns mit einem freundlichen Good bye, das mit einem ebenso freundlich-ironischen So long beantwortet wird und machen uns auf den Rückweg zum Parkplatz. Im immer dichter werdenden Nieselregen halten wir noch einmal kurz an. Wir klettern eine glitschige Böschung hinauf, turnen auf einem kunstvoll mit Stacheldraht verzierten Zauntritt herum und fragen uns, ob diese Konstruktion das Übersteigen der Mauer erleichtern oder erschweren soll. Trotz allem können wir einen melancholischen Blick auf den in einhundert Metern Entfernung auf einer Viehkoppel stehenden Lanyon Quoit werfen, einen der - laut Expertenmeinung - schönsten Dolmen Westeuropas. Und er ist schön in seiner aller Zeit entrückten Einsamkeit.

Weißt Du eigentlich, was ein Dolmen ist?!

Äh, ein Dolmen ist...

Genau...

...ein Tisch in der Landschaft, an dem vor zehntausend Jahren Riesen getafelt haben. In Frankfurter Designerläden wäre man entzückt, ihn zum Verkauf anbieten zu können. Wenn man entsprechend dimensionierte Ausstellungsflächen hätte.

Dieser Dolmen ist 4 m hoch, Mann, der paßt in keinen Laden.

Sag ich doch...

Wir haben die Vorstellung, daß es Gräber waren. Wenn das stimmt, dann ist es so wie heute: man buddelt eine Leiche ein und legt ne schwere Steinplatte drauf. Warum eigentlich? Daß nichts entweichen kann? Warum dann die Steine mit Loch? Damit die Seele oder was immer raus kann?

Vielleicht um die nächste Leiche bequemer nachschieben zu können...?!

Die Dinger waren mit Erde bedeckt. Nur: wieso sind sie immer noch nicht umge­fallen, obwohl die Erde um sie rum weg ist? Die Steine sind mehrere Tonnen schwer. Wie können sie Tausende von Jahren auf einer 10-cm-Auflagefläche liegen und nicht runterrutschen? Wer hat das berechnet? Und wer hat das gebaut?.Vielleicht solltens auch mal Pyramiden werden, oder waren es, und der Rest ist umgefallen... Egal! Ein paar Leute werden Befehle gegeben, der Rest wird die Fresse gehalten und geschuf­tet haben...

Genau: die Leute, die die Dolmen errichtet haben, wurden bestimmt nicht darin bestattet. Die wurden in die Ginsterbüsche geschmissen...

Tatsache ist: etwas ist geblieben, das wir als schön empfinden - mit oder ohne Nieselregen...

Wir machen ein Foto und mehr oder weniger auf dem Hintern die schlammige Böschung runterrutschend, haben wir für heute mit Prähistorischem nichts mehr am Hut. Wir schleichen zum Auto zurück und es müßten schon mindestens sieben Druiden auftauchen, um uns noch einmal vom Sitz zu reißen.

Und plötzlich gab's keinen Sprit mehr...

Mit einer Tankfüllung von Cornwall nach Dover und - wie alles doch noch gut wurde

Während der Benzinkrise mit dem Iglu unterwegs in Südengland

Penzance, die Kleinstadt im südlichsten Cornwall, verdankt die Ehre unseres Besuchs allein der Tatsache, daß es am Weg von Lands End zurück zu unserem Camping Site in Chacewater liegt und daß wir hier - das in Frankfurt leider ver­gessene - Plastiksieb zu erstehen gedenken, damit wir morgen unsere Spaghetti abgießen können. In der obligatorischen Fußgängerzone finden wir eine Woolworth-Filiale, wo wir das Gewünschte kaufen, nebst einer Tageszeitung, die auf der Titelseite das großformatige Foto eines Autofahrers an einer Zapfsäule zeigt. Die dazugehörige Schlagzeile beachten wir nicht...

Der Stop-and-Go-Verkehr in diesem Kleinstädtchen irritiert uns etwas. Vor fast jeder Tankstelle, an der wir vorbeifahren, eine riesige Autoschlange. Wir denken uns nichts dabei, bis uns einfällt, im Radio etwas von einem Streik in Frankreich und einer Blockade des Kanaltunnels gehört zu haben... Auf dem Campingplatz ange­langt, fahren wir gleich durch zur Rezeption und bezahlen unsere Rechnung. Wir wollen morgen früh Cornwall in Richtung Dover verlassen, wo wir in einer Woche die Überfahrt nach Calais gebucht haben. Während ich die Formalitäten erledige und R. im Lebensmittelregal nach Orangenmarmelade kramt, fragt Debbie, die tempe­ramentvolle Platzwartin, ob wir denn genug Benzin hätten... Haben wir nicht. Wir wollten morgen früh unterwegs tanken. Debbie rät uns dringend davon ab, bis Morgen zu warten. wir sollen es sofort bei der JET-Tankstelle auf dem Wege nach Redruth, an der wir gerade vorbeigefahren sind, versuchen. Die übrigen Tankstellen im Umkreis seien bereits trocken. Wir schmeißen uns wieder ins Auto und reihen uns vor der Tankstelle in die Schlange ein, wo ein vor Freude und Aufregung stotternder Tankwart die wartenden Autos auf die einzelnen Zapfsäulen verteilt. Innerhalb von ein paar Stunden ist der Benzinpreis, den Gesetzen des Marktes gehorchend, um 2 Pence gestiegen... Wir können volltanken und sind erstmal erleichtert. Anhand der Karte rechnen wir aus, daß wir es schaffen können, wenn wir keine großen Umwege fahren, was wir eigentlich vorhatten, mit den letzten Tropfen Sprit auf die Fähre nach Calais zu rollen...

Den Abend verbringen wir, da es nicht aufhört zu drizzeln, im Cockpit des Autos wie in einer Taucherglocke. Im Radio hören wir die teils dramatisierenden, teils abwiegelnden Berichte über die neueste Lage an der Streikfront. Unbemerkt von uns war der Streik vergangene Nacht vom Kontinent auf die Insel rübergeschwappt. Seit Mitternacht werden in Wales die großen Treibstoff-Depots blockiert, und nur wenige Tanklastzüge können noch passieren. Die in Penzance gekaufte Zeitung, die wir noch nicht angeschaut hatten, läßt uns den Ernst der Lage ahnen. Wir bleiben ge­lassen, trinken Rotwein und vertreiben uns die Zeit damit, die Nachbarn zu beobach­ten, die nicht nur Hunde sondern auch Katzen am Halsband Gassi führen.

Über Bodmin, Launceton, Okehampton verlassen wir am nächsten Morgen Cornwall. Obwohl der Tank voll ist, haben wir ein mulmiges Gefühl und trauen uns nicht, die großen Straßen zu verlassen. Da ich alle fünf Minuten auf die Tankanzeige schiele, sehe ich nur wenig von der Landschaft. Die scheint momentan eh nur aus Tankstellen zu bestehen, wo ein handgeschriebenes Pappschild verkündet: Sorry, no fuel. Da wir uns Umwege nur leisten können, wenn sie in Richtung Dover führen, sind wir nicht wählerisch und erreichen am späten Nachmittag bei dem kleinen Ort Tilshead, ein paar Meilen nördlich von Salisbury gelegen, den Campingplatz "Brades Acre". Der liegt sehr idyllisch, nur durch eine hohe Hecke von der Landstraße ge­trennt, ca. einen Kilometer vom nächsten Truppenübungsplatz entfernt und ist eine Mischung aus größerem gepflegten Vorgarten und leicht verwildertem Brachland, an dessen Rand sich ein Mobilfunk-Sendemast erhebt.

Wir werden sehr herzlich vom Chef des Ganzen begrüßt, der in Gummistiefeln und Overall steckend, gerade dabei ist, ein Wespennest auszuräuchern. Nach dem einführenden "What a nice day today" folgt die Frage, ob wir genug Sprit haben, denn im ganzen Umkreis gäbe es keinen Tropfen mehr... Er beginnt, gegen die Regierung zu wettern, ich schimpfe ein bißchen mit, und wir sind uns auf Anhieb sympathisch. Nachdem er mit einer weit ausladenden Armbewegung zu verstehen gegeben hat, daß wir uns hinstellen können, wo wir Lust haben, tun wir das. Noch erschlagen von seiner temperamentvollen Rhetorik, die wir eher jenseits der Alpen erwartet hätten, sitzen wir erschöpft beim Aperitif und überlegen, was wir in Anbe­tracht der Umstände noch unternehmen können. Wir beschließen, morgen das Auto stehen zu lassen und die Gegend zu Fuß zu erkunden.

Kurz darauf rollen zwei glänzende Mittelklasse-Autos auf den Platz und parken neben unserem Opel, der jetzt wie ein mit Hausrat vollgestopfter Haufen Schrott aussieht. Zwei Männer Mitte Dreißig steigen aus: sehr kurzhaarig, sehr muskulös, sehr tätowiert. Freundlich grüßend und sich entschuldigend, daß ihr Caravan, den wir für unbewohnt und unbewohnbar gehalten hatten, direkt hinter unserem Iglu steht, zwängen sie sich durch unser Wohnzimmer und verschwinden in ihrer Unterkunft. Später am kühlen Abend, als sie, das Handtuch über die nackten Oberkörper geworfen, noch einmal, in einer für Briten wohl grausamen Nähe, an uns vorbei müssen, machen wir, um die Peinlichkeit der Situation zu entschärfen, ein bißchen Konversation. Wir erfahren, daß ihre Familien in Wales wohnen, daß sie in der Nähe einen Job haben und, um Geld zu sparen, im Caravan übernachten. Außerdem versichern sie uns mit ausgesuchter Höflichkeit, wir könnten ruhig hier stehen bleiben. Das sei völlig o.k.

Etwa dreißig Meter von uns entfernt ein Hauszelt, vor dem ein englisches Ehepaar in Bermudas am gediegenen Campingtisch sitzt und entweder Zeitung liest oder würfelt. Ab und zu streift ein sehnsüchtiger Blick unsere Flasche ALDI-Calais-Wein. Nachdem die Tiefflieger schlafen gegangen sind und nur noch ein VW-Bus mit Herr und Hund abseits von uns geparkt hat, überlassen wir uns den Geräuschen der Straße und der Betrachtung der Fledermäuse, die durch die unendlich langsam hereinbrechende Dämmerung torkeln.

Nach dem Frühstück mache ich einen Spaziergang ins Dorf. Beim Krämer kaufe ich Zeitungen. Lokalblätter, die ich so liebe, gibts heute leider nicht. Die Lieferfahrzeuge haben keinen Sprit. Ich muß mit zwei Kilo TIMES und einem Daily Express vorlieb nehmen und frage mich, wie die wohl hierher gekommen sind.

Der Lektüre der beiden Blätter entnehme ich: die allgemeine Streiklage hat sich verschärft. Großes Hauen und Stechen zwischen Gewerkschaften und Regie­rung. Die Mehrheit der Bevölkerung steht hinter den Streikenden. Wer es sich leisten kann (wer kann das schon?), fährt zum Tanken über den Kanal. Man leert den Tank des Rasenmähers oder besorgt sich, nur um an das Benzin zu kommen, einen Miet­wagen. So man hat, fährt man mit der Pferdekutsche zum Einkaufen. Der Landarzt besucht seine Patienten hoch zu Roß. Bei älteren Leuten werden Erinnerungen an die Kriegszeit wach. We stick together. We muddle through... Man liest auch die Geschichte von dem Trucker, der morgens auf dem Rastplatz aufwacht und fest­stellen muß, daß über Nacht die Benzinleitung seines LKW gekappt worden ist. Oder von dem pakistanischen Taxifahrer in London, der etliche Liter Benzin in offenen Gefäßen in seinem Wohnzimmer hortete. Beliebt bei Spritdieben sind die Autos von Krankenschwestern oder anderen Angehörigen des nationalen Gesundheitsdienstes, die (noch) bevorzugt mit Sprit versorgt werden. Auch Busse für den Transport von Behinderten werden nicht verschont. Aber das sind wohl eher die Ausnahmen. Es ist nicht die erste Krise dieser Art, es wird nicht die letzte sein. Man nimmt's gelassen und mit Humor. Ein Cartoon auf der Titelseite eines großen Londoner Blattes spielt auf den sich als schwierig erweisenden Verkauf der Abschreibungsruine des Londoner "Millennium-Dome" an. Da sagt ein Nadelstreifen zum anderen: Wenn wir das Ding jetzt nicht loswerden, dann nie. Daneben ein Schild, auf dem steht, wer jetzt kauft, bekommt gratis eine Gallone Sprit dazu... Hübsch auch das Foto von einer Londoner Ballett-Truppe, die im 200-Meilen-Stau auf der Autobahn eine Extravorstellung gibt. Oder das Fazit eines Kommentars im Daily Express: Wenn sie es nur geschafft hat, daß endlich dieses "silly grin" von Mr. Blair's Gesicht ver­schwunden ist und einige seiner Minister mit einem blauen Auge herumlaufen, dann hat die Krise schon etwas Gutes bewirkt...

Unsere walisischen Nachbarn, bei denen um 6:30 der Wecker geklingelt hatte, sind heute zusammen mit nur einem Auto zur Arbeit gefahren. Wir bereiten uns mit einem ausgedehnten Frühstück auf einen stressfreien, autolosen Ferientag vor. Nach dem Frühstück brechen wir zu einem Spaziergang auf und stehen nach ein paar hundert Metern Weg über abgeerntete Felder vor einem eingezäunten Gelände, auf dem sich, in Ost-West-Richtung, ein ca. 20 Meter langer und 5 Meter breiter Hügel erstreckt. Wir wittern Prähistorisches und werden darin bestätigt durch ein kleines Holzschild, das dieses Gelände als Eigentum des National Trust (Behörde für Denkmalschutz) ausweist und den Hügel als eine Grabanlage aus dem Neolithikum. Schlappe 5000 Jahre alt sollen die Überreste der Gebeine sein, auf denen wir, nachdem wir uns durch das hüfthohe Gras auf den Hügel gekämpft haben, etwas unschlüssig herumstehen. So richtige prähistorische Stimmung will nicht aufkommen, befindet sich doch 200 Meter entfernt ein kleines verkrüppeltes Wäldchen, vor dem die English Army den Ernstfall probt, d.h. damit beschäftigt ist, mit Hilfe eines Hub­schraubers und mehrerer Geländefahrzeuge Unmengen an Sprit zu vergeuden. Da wir kein Schild gesehen haben, daß wir uns hier auf militärischem Übungsgelände befinden, die am Waldrand herumlungernden Uniformierten uns, wie wir sie, zu ignorieren scheinen, umgehen wir das Wäldchen auf einem Weg, den die Ketten gepanzerter Fahrzeuge angelegt haben. Gleich hinter dem Wäldchen beginnt eine staubige Heidelandschaft, durch die ab und zu ein Militärfahrzeug rast. Wir wenden uns nach rechts und folgen einer breiten Schotterpiste, die trotz der idyllischen Landschaft nicht recht zum Wandern einlädt. Linkerhand steht in einiger Entfernung ein weiterer Hubschrauber in der Luft. Irgendwann dreht er ab, um einen neugierigen Kreis über uns zu ziehen. Da er uns als blöde Zivilisten identifiziert, kehrt er wieder zu seinem befohlenen Standort am Spätsommerhimmel zurück. Unter ihm sehen wir Rauchbomben explodieren. Wir ahnen, daß dort etwas gespielt wird, für das wir uns nicht zu sehr interessieren sollten und wenden uns nach rechts, der Zivilisation zu. An kleinen, umzäunten Eichenschonungen vorbei, die mit handgemalten Verkehrs­schildern Panzerfahrer darauf aufmerksam machen, daß sie bitte nicht niedergewalzt werden sollten, stolpern wir, mürrisch und müde geworden, über von Panzerketten gespurte Wege durch eine gar nicht pastorale Landschaft zurück zu dem Grabhügel, wo unsere Wanderung begann. Am Rand des Wäldchens ist immer noch der andere Hubschrauber geparkt. Kaum hat der gelangweilte Pilot uns bemerkt, startet er seine Maschine und versucht uns, enge Kreise ziehend, ein bißchen über die Felder zu jagen. Ohne ihn merken zu lassen, daß wir mit von Ohnmacht gebremster Wut da­rüber nachsinnen, wie man mit steinzeitlichen Waffen einen Hubschrauber vom Himmel holen könnte, tun wir das einzige, was wir tun können: wir ignorieren ihn.

Noch etwas außer Atem begegnen wir den Hauszeltnachbarn, von denen wir die Bestätigung erhalten, daß dies kein militärisches Übungsgelände ist, von der Armee aber stillschweigend als "Aufmarschgebiet" für den erst ein paar Meilen dahinter beginnenden eigentlichen Truppenübungsplatz benutzt wird. Unsere Empö­rung teilend, erzählt er von einem verlassenen, oder extra für die Armee gebauten Dorf, wo Häuserkampf geübt wird. Sie vom kleinsten Dorf Englands jenseits des Tals, das aus zwei Häusern bestehe und einem - Pub. Außerdem erfahren wir, daß sie vorgehabt hatten in dieser Gegend, die sie offenbar gut kennen, vier Wochen Urlaub zu machen. Während sie etwas reserviert guckt, ist er sehr kommunikativ und erzählt uns, daß sie am Wochenende versuchen wollen, sich mit dem Sprit, den sie noch im Tank haben, nach Hause, irgendwo im Norden, durchzuschlagen. Gleich­zeitig haben wir das Gefühl, daß er sich, im Namen Englands, dafür entschuldigen möchte, daß unsere Pläne durch die Spritkrise so durcheinander geraten sind. Wir sind gerührt und verabschieden uns mit freundschaftlichen Gefühlen.

Morgens, als ich bezahlt und dem Chef gesagt hatte, daß wir noch eine Nacht blieben, dessen lakonische Antwort: Maybe till Christmas... Bei tröstlichen 29 Grad im Schatten verbringen wir den Rest des Tages, still vor uns hinschwitzend und lauschen den Geräuschen des Straßenverkehrs hinter der Hecke, die kaum noch im meßbaren Bereich liegen...

Um 8:30 brechen wir auf. Wir wollen bis Carter's Farm fahren (dem ersten Campingplatz auf der Hinreise), da er direkt auf der Route nach Dover liegt und ohne spritraubende Umwege zu erreichen sein müßte. Dort wollen wir das Auto stehen lassen und die bukolischen Landschaften zu Fuß erwandern. Mit dem letzten Sprit hoffen wir dann, am Dienstag bis zur Fähre zu kommen. Bereits 10 Minuten später rollen wir am Parkplatz von Stonehenge vorbei. Der junge Parkplatz-Wächter macht sich gerade am geschlossenen Schlagbaum zu schaffen. Ein Radfahrer kommt und begrüßt ihn. Lachend breitet er die Arme aus und ruft: "Du kommst hier nur rein, wenn du eine Gallone Sprit mitbringst!" Stonehenge öffnet erst in einer knappen Stunde. Außerdem haben wir mit den letzten Pfundmünzen gerade den Camping­platz bezahlt. Normalerweise wären wir nach Salisbury gefahren, hätten Geld gezogen und wären wieder zurückgekehrt. Das ist heute nicht drin. Wir parken das Auto am Straßenrand, werfen über den Metallzaun einen Blick auf die von einem noch nicht ganz untergegangenen Vollmond und einer gerade hinter Dunstschleiern aufgehenden Sonne in diffuses Zwielicht getauchte, "ungeheuer verschwommen und ungeheuer tief" (Henry James) herumstehende Versammlung würdevoll ergrauter Steine und beschließen, irgendwann in diesem Leben noch einmal wieder­zukommen.

In Salisbury finden wir unweit der Hauptstraße einen Parkplatz. Obwohl der Sprit ja nicht weniger wird, wenn das Auto steht, sind wir nervös und unkonzentriert. Das Städtchen ist sehr hübsch, die Kathedrale mit ihrem größenwahnsinnigen Turm nichtssagend. Wieder zu Hause lesen wir dann irgendwann bei Henry James: "...die architektonische Wirkung der Kathedrale von Salisbury entspricht der physiogno­mischen von flachsblondem Haar und blauen Augen..."

In den Zeitungen hatten wir immer wieder den Namen einer Supermarkt-Kette gelesen, aber nie einen entdecken können. Hier in Salisbury finden wir nun einen TESCO-Supermarkt und unsere bereits in Frankfurt geäußerte Vermutung wird bestätigt: auch im Supermarkt herrscht Linksverkehr. Wir decken uns mit Vorräten für die nächsten 5 Tage ein. Da viele Menschen allmählich mit Hamsterkäufen begin­nen, fallen wir mit unserem vollbeladenen Einkaufswagen nicht weiter auf.

Bei der Weiterfahrt stellen wir fest, daß sämtliche Tankstellen, an denen wir vorbeikommen, geschlossen sind. Der Verkehr auf der Autobahn hat ebenfalls nachgelassen, und kaum ein Auto fährt über 100 kmh. Auf einer Landstraße kurz vor Polegate, ca. 30 km vor Carter's Farm, sehen wir das Ende einer Autoschlange vor einer kleinen Agip-Tankstelle. Wir sind bereits so englisch, daß wir uns, sobald wir eine Schlange sehen, sofort hinten anstellen. Ich mache mich auf den Weg, um zu erkunden, ob es überhaupt unleaded petrol gibt und nicht nur Diesel. Es gibt!!!! Während hinter uns die Schlange wächst, müssen wir noch eine kleine Zitterpartie durchstehen: Die Vorstellung, daß nichts mehr da ist, wenn wir an der Zapfsäule ankommen, macht uns ganz schön kribbelig... Als der Tank wieder voll ist, stellen wir fest, daß die Sonne scheint und ein herrlicher Spätsommertag vor uns liegt. Wir sind wieder mobil und werfen einen Blick auf die Karte...

Fish & Chips im Regen

Was tun, wenn auf handtuchbreitem Klippenpfad eine Kuh entgegenkommt

In Alfriston erkaufen wir uns Ablaß von den kriegerischen Sünden der Väter

Der Platz nennt sich Horam Manor Touring Park, hat vier Sterne, von denen einer auf dem Hinweisschild am Straßenrand überklebt ist, und kostet stolze 11 Pfund 85 pro Nacht. Wir schlucken und zahlen, beobachten, vorm Iglu sitzend, das muntere Treiben kleiner, uns unbekannter, schwarz-weiß-gefieder­ter Vögel, bewundern etwas später einen makellosen Vollmond und begeben uns, in der Hoffnung, daß dies alles im Preis inbegriffen ist, zur Ruhe.

Am nächsten Morgens ist es stark bewölkt. Wir schmeißen uns in unser Regenoutfit und folgen einem als "Nature Trail" bezeichneten Fußpfad, der sich als ein notdürftig gekennzeichneter Wanderweg durch ein krüppliges Wäldchen und entlang einiger grüner Wiesen entpuppt. Als privilegierte Gäste des Horam Manor Touring Park dürfen wir, mit Legitimationskarte versehen, da offensichtlich Privatbesitz, kostenlos durch den Matsch stapfen. Nach Beendigung des kurzen Rundgangs, der von der Ausdehnung her eher für Gehbehinderte gedacht ist, beginnt es zu regnen. Im Auto sitzend erleben wir, wie der Regen sintflutartige Ausmaße annimmt. Da an Kochen nicht zu denken ist, fahren wir in den Ort. Wann, wenn nicht heute, könnte die Gelegenheit günstiger sein, um die kulinarische Seite des Landes kennenzulernen!

Nachdem wir beim Krämer ein paar Zeitungen gekauft haben, lassen wir uns in der Horam Fish Bar von einem mit adrettem Häubchen verzierten Mädel zwei kleine Portionen Fish & Chips zubereiten. Zu unserer großen Enttäuschung werden sie nicht mehr in Zeitungs­papier eingewickelt serviert, dafür aber auf unseren ausdrücklichen Wunsch ohne Essig und mit pro Portion mindestens drei Körnchen Salz. Die Fish-Bar betritt noch ein Kunde, der ein sehr abenteuerliches Regenhütchen trägt und von der Hüfte abwärts triefend naß ist. Er klappt seinen Schirm zusammen und steht innerhalb von Sekunden in einer Wasserlache. Mit strahlendem Lächeln erklärt er, daß das Wetter heute wohl nicht so nice sei. Wir kommen uns sehr britisch vor, als wir - unter den Arm die TIMES geklemmt, in einer Hand den Regenschirm, in der anderen eine Tüte Fish & Chips balancierend, aus der es schon fettig zu tropfen beginnt -  zum Auto hasten, wo wir, während der Regen aufs Blechdach trommelt, hemmungslos unsere kulinarische Begier­de stillen. Als wir satt sind, ist von der "kleinen" Portion immer noch was übrig. Der frische Kabeljau und die knusprigen Chips hätten richtig gut schmecken können, wenn beide ein wenig gewürzt gewesen wären...

Es schüttet ca. 6 Stunden lang ununterbrochen. Wir sitzen im Auto und lesen oder hören Radio. Um das Auto herum breitet sich allmählich ein kleiner See aus. Um aussteigen zu können, müssen wir es an eine andere Stelle fahren. Gegen Abend läßt der Regen etwas nach. Der Platz füllt sich mit Wochenend­urlaubern aus dem nahen London. Nicht weit von uns bauen zwei Vorstadt-Gentlemen ein Hauszelt auf. Als sie fertig sind und erschöpft nach der Bierdose grei­fen, entsteigen dem VW-Bus zwei fette Ladies (Mitte bis Ende 20) und verschwin­den im Vorzelt, wo sie den Rest des Abends, dann und wann schrill aufkreischend, vor der Glotze hocken. Am näch­sten Morgen sitzen sie vorm Zelt und lesen die SUN. Auf dem Weg zum Klo grüße ich mit einem freund­lichen 'hello' und bekomme ein mürrisch verkatertes 'ellauw' zurück...

Nahe Beachy Head stellen wir uns auf den kleinen kostenlosen Parkplatz, wo würdig ergraute englische Ehepaare in ihren Autos sitzen und zeitunglesend aufs Meer schauen. Wir folgen einem am Rande der Klippen entlang führenden Trampel­pfad und stapfen, gegen einen steifen Nord-West ankämpfend, anderthalb Stunden über eingezäuntes, für Zweibeiner mit einem Türchen im Zaun versehenes Weide­land. Verwitterten Holzschildchen entnehmen wir, daß wir uns auf dem berühmten 'South Downs Way' befinden, der, in Eastbourne beginnend und bei Beachy Head ins Landesinnere abbiegend, über 170 Meilen durch die South Downs führt. Für ein paar Meilen geben wir ihm die Ehre. Linker Hand geht es ziemlich steil, wenn auch nicht senkrecht, da die Klippen noch vor uns liegen, nach unten, wo wir die Brandung rauschen hören. Durch Krüppelbäume und Gestrüpp sehen wir ab und zu das Meer - und große schwarz-weiße Tupfen, die im dichten Buschwerk unheimliche, knackende Geräusche verursachen und sich bei näherem Hinsehen als in atemberaubender Schieflage zwischen Himmel und Meer balancierende Kühe entpuppen.

Wir beginnen gerade uns vorzustellen, was wäre, wenn uns auf diesem handtuchbreiten Weg so ein BSE-Fleischberg entgegen­käme, als wir auch schon nach einer Wegbiegung fast auf das riesige schwarze Hinter­teil einer uns über die Schulter sanftäugig anglotzenden Kuh prallen, die nicht den Eindruck macht, als ob unser Erscheinen sie bei ihrer wichtigen Beschäf­tigung des Grasrupfens stören würde. Wegscheu­chen geht nicht, wir stehen ja in ihrem Eßzim­mer, außerdem trauen wir uns nicht näher als 2 Meter an sie heran. Ich kraxele, mich an langen Grasbüscheln festkrallend, den zum Glück nicht allzu steilen Hang hoch, und es gelingt mir, bei strikter Einhaltung eines gebührenden Sicherheitsabstands, die Kuh zu umgehen, die das ganze Manöver mit ­eher ungläubigen Blicken verfolgt. R. will nach zwei Kraxelschritten aufgeben, da schwankt das schwar­ze Ungetüm - wohl doch von meinen Anfeuerungsrufen aus seiner widerkäuenden Ruhe gebracht - gelassen unter ihr vorüber...

Über Seaford fahren wir weiter nach Alfriston, einem winzigen, für das östliche Sussex typischen Ort, der von britischen Film­gesellschaften gern als natürliche Kulisse benutzt wird. In den liebevoll restaurierten Fachwerkhäusern aus dem 16. Jahrhundert reiht sich unaufdringlich Lädchen an Lädchen, Teestube an Tee­stube. Zum Glück gibt es um diese Jahreszeit kaum Touris­ten, so daß wir uns in Ruhe umschauen können.

Nach ein paar Schritten sehen wir St. Andrew's Church, die "Kathedrale der South Downs". Klein und gedrungen erhebt sie sich auf einem flachen grünen Hügel, bewacht von verwitterten Grabsteinen und dem himmelblau lackierten Blindgänger einer deutschen Mine, die im Oktober 1943 im Cuckmere River gefunden wurde. Wäre sie explodiert, gäbe es heute hier nichts zu gucken. Da man sie geschickt zu einer Spendensammelbüchse "für den Erhalt der Kirche" umfunktioniert hat, erkaufen wir uns durch Einwurf einer Pfundmünze Ablaß von den Sünden der Väter.

Auf dem Weg zum Car Park konsumieren wir im 'Georges Inn' unter niedrigem, braunschwarz glänzenden Deckengebälk einen Kaffee und ein Brown Ale vom Faß, das wirklich alle Klischeeanforderungen eines Kontinentaleuropäer an ein englisches Bier erfüllt. Erwähnenswert das Schild am Eingang dieses auch aus dem 14. Jh. stammenden Pubs: "Families welcome!"

Bei Wilmington, ein paar Meilen weiter, bewundern wir den 'Long Man', eine 230 Fuß (= 69 Meter) hohe Figur, die sich, als wäre sie erst gestern aus dem weißen Kreideuntergrund herausgearbeitet worden, leuchtend von dem Grün des Hügels abhebt. Wann, von wem und warum... nichts genaues weiß man nicht. Manche tippen auf ein Fruchtbarkeitssymbol aus der Eisenzeit, das man in ähnlicher Form auch auf der Rückseite römischer Münzen entdeckt hat. Andere gehen so weit, zu behaupten, daß Erich von Dänicken, der unermüdliche Fahnder nach außerirdi­schen Spuren auf unserem Planeten, selbst mit Hand angelegt habe...

Zurück auf dem Platz machen wir noch einen Nachmittagsspazier­gang am kleinen See vorbei, an dessen schlammigen Ufern sich heute die Wochenendangler nebst Familien klumpen. In den ehemaligen Wirtschaftsgebäuden der Farm befinden sich heute Ateliers und Werkstätten nebst einem Farmmuseum, in dem vom verrosteten Nagel ­über bäuerliche Haushaltsgegenstände bis zum hölzernen Pflug und einem vorsintflutlichen Traktor auf nackten Felgen alles gesammelt und liebevoll verstaubt ausge­stellt ist, was einen Eindruck vom ländlichen Leben der letzten 300 Jahre in dieser Gegend des Vereinigten Königreichs vermitteln kann.

Am 60. Jahrestag der Battle of Britain in Rye,

dessen normannische Kathedrale uns nicht will

Von freundlichen Methodisten und Antiquaren

Es ist Sonntagvormittag als wir zum zweiten mal während unseres England­aufenthalts nach Rye kommen. Wir sind daher nicht die einzigen, die in den steilen, mit Katzenköpfen gepflasterten Gassen herumsteigen. Zum Glück sind die meisten Besucher in der normannischen Kathedrale eingeschlossen, was für uns allerdings bedeutet, daß wir ausgeschlossen sind. Ein Blick durch das kleine gläserne Seiten­portal zeigt, daß die Kirche gut besucht ist. Während wir, von gedämpftem Orgel­klang umrauscht, dezent unsere Nasen an der Glasscheibe plattdrücken, bemerken wir in einer der ersten Reihen ein paar jüngere Frauen in Marineuniform, die den weit aufgesperrten Mündern nach zu urteilen, gerade eine fromme Weise singen. Etwas verwirrt umrunden wir noch einmal das solide normannische Bauwerk. In der Hoff­nung, der Küster möge vergessen haben eine zu verriegeln, zupfen wir verstohlen an allen Pförtchen und müssen uns schließlich eingestehen: die Kathedrale von Rye will uns nicht.

Deshalb gehen wir zur schräg gegenüber gelegenen methodistischen Kon­kurrenz, einer Sekte, die sich sehr stark urchristlichen Idealen verpflichtet fühlt. Während R. im Schatten einiger alter Bäume auf mich wartet, werfe ich einen un­verhohlen neugierigen Blick in den schlichten, sonnendurchfluteten Versammlungs­raum, der aus ein paar Reihen hölzerner Bänke und einer Andeutung von Altar oder Kanzel im Hintergrund, wo ein paar Kerzen brennen, besteht. Aus einer im Stehen Konversation machenden Gruppe von vielleicht fünf oder sechs Leuten, die nur deshalb nicht den Eindruck erwecken, sich auf einer Vernissage zu befinden, weil sie kein Sektglas sondern ein Gesangbuch in der Hand haben, löst sich ein Gentleman mittleren Alters und erkundigt sich freundlich, ob ich am 'Service', der in ein paar Minuten beginnen werde, teilnehmen oder nur mal schauen möchte. Als ich letzteres bejahe, läßt er meinen Augen Zeit, eine kurze Runde zu machen und begleitet mich dann höflich die paar Schritte bis vor die Tür, wo ich ihm gestehe, daß wir eigentlich die Kathedrale hatten besichtigen wollen und heute zum zweiten mal vor verschlos­senen Portalen gestanden hatten. Unsere Enttäuschung nachempfindend erzählt er uns, daß man heute überall in England mit feierlichen und länger als üblich dauern­den Gottesdiensten den 60. Jahrestag der 'Battle of Britain' (bei uns als 'Luftschlacht um England' bekannt) begehe. Als er erfährt, daß wir Deutsche sind, murmelt er höflich etwas von 'it should be over now...', wobei ich nicht umhin kann zu bemerken, daß in seinem Tonfall ein leicht melancholisches Fragezeichen mitschwingt...

Nachdem der sympathische Mensch sich herzlich von uns verabschiedet und die Tür zum Versammlungsraum hinter sich zugemacht hat, schlendern wir noch durch ein paar Gässchen, kaufen bei einem Antiquar für 45 Pence ein zerlesenes Bändchen von Charlotte Bronte, da uns der "Amerikaner" von James, den er freudestrahlend auf den Tisch legt, zu teuer ist, was er, wenn auch etwas betrübt, gelassen zur Kenntnis nimmt. Nach ein paar Schritten übers Katzenkopfpflaster schämen wir uns unseres Geizes, denn das wunderbar altmodische 'it should be a miracle' als Antwort auf meine Frage, ob er zufällig etwas von James im Regal hätte, wäre allein drei Pfund wert gewesen... Da wir keine Lust haben, zu warten bis die Kathedrale wieder zugänglich ist, fahren wir weiter und schlagen auf einem Zeltplatz ein paar Kilometer vor Dover unser Iglu auf.

'Abbotsland Site' liegt, einen Steinwurf weit vom Klippenrand entfernt, ziem­lich ungeschützt auf einem flachen Hügel, über den heute ein steifer Süd-West pfeift. Wir werden empfangen von 4 kläffenden Bassets und einer Dame, die lächelnd 10 Pfund für die Nacht verlangt und betont, dafür wären die Duschen frei (daß es kein Klopapier gibt, sagt sie nicht). Dieser Preis ist durch nichts gerechtfertigt -außer durch die Nähe zur Fähre. Später stehen wir fassungslos am Zaun vor dem langge­streckten Wohngebäude und zählen immer wieder die durcheinander wuselnden Rasse-Hunde. Der etwa 10-jährige Sohn des Hauses erzählt, daß sie die Hunde züchten. Zur Zeit hätten sie zwölf, es wären aber auch schon mal einundzwanzig gewesen... Und alle sind bei schlechtem Wetter und nachts im Haus. Heute scheint gutes Wetter zu sein, denn die krummbeinige, triefäugige Meute treibt sich aufgeregt mit den Schwänzen wedelnd im Vorgarten herum, jede unserer Bewegungen mit aus tiefster Kehle hervorgegrollten Wuffs kommentierend, daß wir es kaum noch wagen, uns aus unseren Stühlen zu erheben... Da uns das Zelt wegzufliegen droht, schleifen wir es quer über die Wiese in den Windschatten eines alten, zur Zeit nicht bewohnten Caravans, wo wir einigermaßen geschützt sind. Auch der böige Wind kann uns von einem Spaziergang über die Klippen nicht abhalten. Fast hätte er uns von der Bank geweht, auf der wir uns niederlassen, um den Blick auf Folkstone zu genießen. Tief unter uns fährt eine Spielzeug-Eisenbahn am Meer entlang. Winzig ist die Fähre von Boulogne-sur-mer, die sich, einen langen Streifen Kielwasser hinter sich herziehend, dem Hafen von Folkstone nähert.

Da mit Fortschreiten des Nachmittags der Wind immer unangenehmer wird, packen wir bis auf das Zelt alles ins Auto, lassen uns auf den Klippen noch einmal zum Abschied kräftig durchpusten, trinken uns, im Cockpit sitzend, eine angenehme Bettschwere an und begeben uns, da wir um 4:00 Uhr morgens an der Fähre sein müssen, früh zur Ruhe. Nachts entwickelt sich der Wind zum Sturm, wir verrammeln den Iglu-Eingang und schlafen ein im Vertrauen auf die biegsamen Zeltstäbe und unser eigenes Gewicht, das unser Haus hoffentlich am Boden halten wird.

Als es ganz dunkel geworden war, hatten wir dort, wo Frankreich sein müßte, Lichter gesehen, die den Verlauf einer Küstenlinie anzudeuten schienen. Kann man wirklich über den Kanal gucken?!

Nach ein paar Stunden Halbschlaf klingelt um 2:30 der Reisewecker. Um 3:00 Uhr ist das Auto fertig gepackt. Wir trinken eine Tasse Tee, beißen in ein gummiartiges Croissant, putzen Zähne, klatschen ein bißchen Wasser ins Gesicht und sind reisefertig. Ich nehme 'Rache' an dem miesen, viel zu teuren Platz und wasche meine Wasserschuhe im Waschbecken der schmuddligen Sanitäranlage, die Abflüsse mit Gras verstopfend. R. findet es kindisch. Ich auch... Über die fast völlig leere Autobahn gelangen wir schnell nach Dover und finden, obwohl es diesmal kein anderes Auto gibt, dem wir hinterherfahren könnten, problemlos unseren Abferti­gungsschalter, wo, das Köpfchen anmutig auf die Unterarme gebettet, ein reizendes Mädel schlummert, das, nachdem wir ein paar Sekunden höflich gewartet haben, aus seinen Träumen aufschreckt und uns mit strahlend verschlafenem Lächeln den Weg zu Lane 216 weist, unsere nicht ganz ernstgemeinte Entschuldigung, daß wir sie geweckt haben, mit einem fröhlichen That's allright kommentierend. Auf Lane 216 hat es das Schicksal schließlich gefügt, daß wir drei Autos vor uns haben, denen wir hinterher fahren können.

Wir steigen aus und werden von einer warmen, seidigen Luft empfangen. Verblüfft lesen wir auf einer Digitalanzeige, daß wir 17° haben. Der Wind hat sich fast völlig gelegt. Während wir damit beschäftigt sind, das Autodach als Stativ benutzend, die hinter dem Hafengelände aufragenden Kreidefelsen zu fotografieren, führt in zehn Schritten Entfernung ein original britischer Bobby seine an einen schwarzen Tropenhelm erinnernde urige Kopfbedeckung spazieren. Als wir uns von unserer Verblüffung erholt haben, ist es leider für ein Foto zu spät. Immerhin ist es der erste Polizist, der uns nach 14 Tagen England begegnet.

Das Auto ist im Bauch der Fähre verstaut und pünktlich legen wir ab. Während die Lichter von Dover immer kleiner werden, sehen wir vor uns die Lichter von Calais, die in einem roten Streifen am immer heller werdenden Himmel funkeln. Diese Fähre hat ein "Sonnendeck", auf welchem wir uns kurz die Meerbrise um die Nase wehen lassen. Um diese Uhrzeit erinnert die Fähre an eine frühe S-Bahn mit wenigen Fahrgästen. Pendler haben sich auf Bänke gelegt und schnarchen leise, ein paar Touristen frühstücken. Damit die französischen Stewarts nicht einschlafen, holen wir uns eine Tasse Kaffee. Danach machen wir einen kleinen Rundgang. Vorbei an den noch geschlossenen Läden und Duty-Free-Shops, durchqueren wir staunend die Meile der hektisch blinkenden Spiel-Automaten, die um diese Uhrzeit noch nicht mit Münzen gefüttert werden.

Um 6.30 Uhr legen wir im Hafen von Calais an. England ist verblaßt zu einem winzigen hellen Streifen am nördlichen Horizont.

© Klaus Bölling, Frankfurt 2001

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